Raum der Stille

Eröffnungsrede zur Ausstellung in Michaelshoven
von Sebastian Linnerz

Guten Tag, meine Damen und Herren,

beim Anblick meiner Bilder haben Sie sich sicher schon gefragt: Wie wird man eigentlich Engelfotograf? Nun, das kam so: Zunächst einmal musste ich dazu meine Frau Corinna kennenlernen. Das war vor 11 Jahren, und als Ort unseres ersten ernsten, über unsere Liebe entscheidenden Gesprächs schlug sie damals einen bemerkenswert existenziellen Ort vor: den Melatenfriedhof! Obwohl ich (im Gegensatz zu meiner damals zukünftigen Ehefrau) fast mein ganzes Leben in Köln verbracht hatte, war ich noch niemals vorher dort gewesen. Und konnte nicht ahnen, was für ein wunderbarer Ort das ist und welche Bedeutung der Melatenfriedhof für mich noch bekommen würde.

Seit diesem denkwürdigen Spaziergang im Jahr 2000 sind wir an jedem Silvestertag dort gewesen: zunächst zu zweit, dann ab 2002 zu dritt mit unserer Tochter Elisabeth, und ab 2005 zu viert mit Konstantin. Auch für die Kinder ist dieser »Jahresendzeitspaziergang« selbstverständlich geworden, und (noch) hat sich niemand darüber beschwert. Im Gegenteil: Irgendwann habe ich begonnen, die Kamera mitzunehmen. Und immer sind dann am 31. Dezember einige Familienfotos – aber auch die ersten Fotos von besonders schönen Grabmälern entstanden.

Nach einigen Jahren bemerkte ich, dass unter den von mir gewählten Motiven immer mehr Engel-Skulpturen waren. Und als ich 2009 nach meiner Postkartenserie »11 Kölner Ansichten« auf der Suche nach einem neuen fotografischen Thema war, kamen mir die vielen Engelmotive wieder in den Sinn. Von da an bin ich gezielt losgezogen. Und nachdem ich (fast) alle Engel auf dem Melatenfriedhof gesucht und gefunden hatte, war ich bei meinen Streifzügen mit der Kamera auch auf (fast) allen anderen Kölner Friedhöfen. Neben dem Melatenfriedhof fand ich die schönsten historischen Skulpturen auf dem Süd- und dem Nordfriedhof, einige auf dem Westfriedhof.

Angesprochen haben mich immer jene Engel-Skulpturen, die einerseits einen sehr persönlichen menschlichen Ausdruck verkörpern und andererseits auf eine ästhetisch überzeugende Art verwittert waren. Die Spuren der Zeit können also – wenn es sich um Körper aus Stein und Metall handelt – ausgesprochen fotogen sein!

Ein für mich attraktives Fotomotiv entsteht aus dem Zusammenspiel von drei Faktoren: Motiv, Ausschnitt und Licht. Das Motiv finde ich unabänderbar vor – und entweder es reizt mich, oder es reizt mich nicht. So einfach ist das.

Dann wird es komplizierter: Um den in meinen Augen bestmöglichen Ausschnitt einzufangen, mache ich immer sehr viele Aufnahmen. Manchmal bis zu 30 verschiedene Ansichten von ein und demselben Motiv. Die Auswahl treffe ich später am Computerbildschirm – aber niemals verändere ich dann noch einmal den beim Fotografieren gewählten Ausschnitt! Außerdem komponiere ich den Bildausschnitt meist sehr eng. Das bedeutet: Eine vollständige Engelfigur ist auf meinen Fotos nicht zu sehen.

Der dritte entscheidende Faktor für ein gutes Bild – nach Motiv und Ausschnitt – ist das Licht. Es ist so entscheidend, dass ein und dasselbe Motiv und auch derselbe Ausschnitt bei unterschiedlichen Lichtverhältnissen entweder flach oder plastisch, uninteressant oder brillant, nichtssagend – oder einfach großartig erscheint! Aus diesem Grund war ich zu ganz unterschiedlichen Tageszeiten und bei ganz unterschiedlichen Wetter- und Lichtverhältnissen mit der Kamera unterwegs. Und alle Bilder sind ohne künstliches Licht und ohne Blitz entstanden.

Die Fotovergrößerungen, die Sie hier sehen, nenne ich »Duplex-Color-Prints«. Die ursprüngliche Vorlage hierfür sind – das haben Sie jetzt wahrscheinlich nicht vermutet – digitale Farb-Fotografien, die ich am Computer für den Zwei-Farb-Offset-Druck der Postkarten in Schwarz und ein warmes Grau separiert habe. Dadurch entstehen sehr feine, weiche Zwischentöne. Fast wie bei früheren Schwarz-Weiß-Vergrößerungen auf Fotopapier. Von diesen digitalen Druckvorlagen sind dann die großformatigen Abzüge auf Fotopapier entstanden, die nun hier hängen. Die Aluminium-Kunststoff-Platten, auf die sie aufgezogen sind, nennt man »Dibond«.

Meine Fotoserie »11 Engel – Skulpturen auf Kölner Friedhöfen« zeigt Stein-Reliefs, Stein-Skulpturen, Bronze-Skulpturen und Galvano-Plastiken der Firma WMF. Bei der Galvano-Technik, die zur Massenherstellung für Skulpturen einmal sehr verbreitet war, wird eine Gipsfigur modelliert oder gegossen und leitfähig gemacht. In einem Bronzebad unter Stromfluss ergibt sich dann eine dünne Metallschicht. Viele der mehr als 100 Jahre alten galvano-plastischen Figuren sind von der Witterung heute stark beschädigt.

Zu den fünf Fotografien, die jetzt im »Raum der Stille« zu sehen sind: links zunächst das Stein-Relief eines Grabsteins auf dem Südfriedhof. Dieser Engel mit seiner verträumten Körperhaltung und den Spuren der Witterung ist eines meiner liebsten Motive!

Der mittlere Engel mit den aufgerichteten Flügeln und dem Palmzweig ist eine WMF-Galvano-Plastik vom Friedhof Melaten. Der besondere Reiz der Aufnahme entsteht durch das Gegenlicht und die Lichtreflexe im Hintergrund.

Das Triptychon wird rechts vervollständigt durch einen Engel des Melatenfriedhofs, der eigentlich gar kein Engel ist: Es handelt sich um einen sogenannten »Genius«. Das ist die römische Version eines – immer männlich dargestellten – Schutzgeistes, der mit dem Tod des Verstorbenen erlischt. Mein Foto zeigt den schlafenden Genius am Grabmal von »Daniel Heinrich Delius«, einem Kölner Regierungspräsidenten, verstorben 1832.

Auch die Bronze-Skulptur vom Nordfriedhof auf dem Bild dort am Fenster zeigt keinen Engel im eigentlichen Sinne, sondern eine schlafende Trauernde. Die Spuren der Oxidation, die wie Tränen an der Figur hinunterlaufen, verstärken den Eindruck der Melancholie und nehmen ihr doch nichts von ihrer Schönheit.

Der Engel auf dem Foto gegenüber der Eingangstür verneigt sich in tiefer Demut über einem Grab der sogenannten »Millionenallee« auf dem Friedhof Melaten, gleich hinter der alten Trauerhalle. In seinen verwitterten Bronzeflügeln kann man noch Einschusslöcher erkennen, die wahrscheinlich aus dem Zweiten Weltkrieg stammen. Aber im Gegensatz zu vielen anderen, vollständig zerstörten Grabmälern und Skulpturen hat er den Krieg nur »leicht verletzt« überstanden.

Als die Postkartenserie »11 Engel – Skulpturen auf Kölner Friedhöfen« im Oktober 2009 fertig gedruckt vorlag und in Kölner Buchhandlungen zum Verkauf angeboten wurde, ergab sich auch ein Kontakt zu einer Klavierwerkstatt im Agnesviertel. Dort zeigte ich im Dezember 2009 gerahmte Vergrößerungen meiner Engelserie unter dem – nur in einer Klavierwerkstatt doppeldeutigen – Ausstellungstitel »Flügelbilder«.

Übrigens hatte ich im Sommer und Herbst 2009, als ich die Fotos machte, keine Ah­nung davon, dass 2010 das zweihundertjährige Jubiläum des Friedhofs Melaten begangen werden würde. Aber natürlich steigerte dies das Interesse an meinem Melaten-Thema. Und im Laufe des Jubiläumsjahres 2010 gab es dann noch zwei weitere Ausstellungen meiner »Flügelbilder« mit Fotovergrößerungen, Leuchtkästen und großformatigen Stoffdrucken: in einer Grundschule am Zugweg und im »Domforum«, direkt gegenüber dem Kölner Dom.

Hier in Michaelshoven finden die Engel jetzt erstmalig ein dauerhaftes Ausstellungs-Zuhause im »Raum der Stille«. Das passt. Und wenn man in diesem Raum (anders als gerade jetzt) wirklich ganz, ganz still ist … dann hört man … vielleicht … ganz, ganz leise … kaum hörbar … einen Flügelschlag.

Vielen Dank.

(April 2011)