Lichtkisten

Eröffnungsrede zur Ausstellung in St. Gertrud
von Norbert Bauer, Pastoralreferent

Vor einigen Wochen traf ich hier auf der Krefelder Straße einen Freund von Sebastian Linnerz. Ich erwähnte die kommende Ausstellung, und dieser Freund vermutete sofort: »Ach, er stellt seine Engelbilder bei Euch aus!« Aber wie Sie sehen, Sebastian Linnerz stellt keine Engelbilder aus. Dabei wäre es doch nahe liegend, dass ein Künstler, der in den vergangenen Jahren vor allem mit Fotografien von Engelskulpturen auf sich aufmerksam gemacht hat, genau diese Bilder in einer Kirche ausstellt. Wo sind Engel besser aufgehoben als in der Kirche. Ich will jetzt nicht näher darauf eingehen, dass offensichtlich in unseren Tagen, wenn man die zahlreichen Engelmotive auf Tassen, Tattoos, Klebebildern sieht, Engel außerhalb der Kirche häufiger anzutreffen sind, als in der Kirche selbst. Ich will aber nicht verschweigen, dass wir ganz froh darüber waren, dass Sebastian Linnerz für die Ausstellung ein anderes Projekt vorgeschlagen hat.

Um das zu erläutern, möchte ich kurz auf die Frage eingehen, ob es heute überhaupt noch möglich ist, religiöse Kunst zu gestalten.

Jahrhundertelang haben Künstler vor allem religiöse Kunst »produziert«. Das lag sicherlich nicht daran, dass die Künstler damals so viel frommer waren als heute, sondern vielmehr daran, dass die Kirchen die Hauptauftraggeber für Kompositionen, Bilder und Skulpturen waren. Auch deswegen gab es eine so lange Liaison zwischen Kunst und Kirche. Diese Liaison ist aufgebrochen, schon lange. Papst Paul VI hat dies 1975 noch bedauernd konstatiert, als er in der Enzyklika Evangelii Nuntiandi einen »Bruch zwischen Evangelium und Kultur« als »das Drama unserer Zeitepoche« (1) beklagte. Dieser Bruch ist nicht rückgängig zu machen. Kunst und Kirche stehen sich heute als autonome Bereiche gegenüber. Dass dieser Bruch zugleich Herausforderung und Gewinn sein kann, wird von einigen Stimmen innerhalb der Kirche gesehen. Deshalb lädt die Kirche, so Bischof Hofmann in einem Grundsatzreferat vor der Deutschen Bischofskonferenz, »gerade diese so genannten ›autonomen‹ Vertreter der Gegenwartskunst zum Austausch ein, weil wir ihre Werke – um mit Papst Johannes Paul II zu sprechen – als ›Stimme der universalen Erlösungserwartung‹ begreifen.« (2)

Kunst funktioniert heute als eigenes System und weitgehend nach den eigenen Logiken. Das entscheidende Kriterium für die Beurteilung von Kunst ist nicht mehr, ob sie religiös ist, sondern ob sie gut ist. »Egal, ob die Kunst in der Kirche ist oder die Vorstandsräume von Unternehmen ziert – sie bleibt immer sie selbst. Wenn Kunst gut ist, wird sie weder von der Kirche noch von der Chefetage aufgesogen. Wenn sie gut ist, bleibt sie widerständig.« (3) Dies sagt Friedhelm Mennekes, der mit der Kunststation St. Peter über viele Jahre gezeigt hat, dass der Dialog von Kunst und Kirche funktionieren kann, »wenn Kunst und Kirche getrennte Welten sind und bleiben. Sie dürfen sich keine Vorschriften machen. Sie müssen einander herausfordern und die punktuellen Begegnungen zu einem beglückenden Augenblick machen.« (4) Dass dies gelingen kann, ist besonders in Köln zu beobachten. Die Kunststation St. Peter habe ich schon erwähnt, die Konzeption des Museums Kolumba zeigt dies auch, ebenso die Kunstausstellungen in St. Agnes. Und St. Gertrud soll ein weiterer Ort dafür werden. Das bekannteste Beispiel eines »beglückenden Augenblicks« sind die Fenster im Kölner Dom im Südquerhaus von Gerhard Richter. Keiner würde behaupten, dies wäre ausdrücklich religiöse Kunst. Es ist ein großartiges Fenster, das so oder ähnlich auch in einer Bank oder in einem Bahnhof bestehen würde. Aber vielleicht fasziniert dieses Fenster so viele Menschen und lässt bei vielen eine spirituelle Saite erklingen, weil es keine ausdrücklich religiöse Kunst ist: Es versucht eben nicht, einen Glaubenssatz zu illustrieren, und es versucht nicht, ein Dogma affirmativ nachzuahmen.

Genug des theoretischen Exkurses, mit dem ich darauf hinweisen wollte, warum wir froh sind, dass Sebastian Linnerz mit »seinen Engeln« nicht noch weitere religiöse Kunst in die Kirche hineinbringt. Bevor ich näher darauf eingehe, was er zeigt, möchte ich gerne den heutigen Künstler etwas näher vorstellen.

Sebastian Linnerz wurde 1959 in Bendorf geboren und lebt in Köln in unmittelbarer Nähe von St. Gertrud, in der Aquinostraße. Nach dem abgeschlossenen Studium der Visuellen Kommunikation ist Linnerz seit 1988 als selbstständiger Grafikdesigner tätig. Schwerpunkte der Arbeit sind Schriftgestaltung und Fotografie. Auftraggeber für Plakate, Buchumschläge, CD-Cover und Broschüren sind der WDR, das Deutschlandradio, Buch und Musikverlage, aber auch amnesty international.

Auf seinen Reisen entstehen freie Fotografien mit typografischen Motiven, die 1998 in der Ausstellung »Schrift:Zeichen« hier in Köln gezeigt wurden.

Das mit neuen Motiven zu »Schrift Zeichen Spuren« erweiterte Projekt wurde 2007 in der Ausstellung »Bilderfinden« im Foyer des Deutschlandfunks ebenfalls hier in Köln gezeigt. Danach wanderte die Schau, ergänzt durch sieben Lichtkisten aus Holz und Plexiglas, nach Berlin ins Funkhaus von Deutschlandradio Kultur.

Als Fotograf entdeckte er vor einigen Jahren an einem Silvestertag auf dem Melatenfriedhof die Engelskulpturen als neues fotografisches Thema. 2010 hatte Sebastian Linnerz im Foyer des Kölner Domforums die große Fotoausstellung »Flügelbilder« mit Engelmotiven.

Die heutige Ausstellung ist eine Installation, die mit »Lichtkisten« und »Himmelsleiter« aus zwei Exponaten besteht. Auf den ersten Blick können Sie die Elemente sehen, die Sie von Linnerz‘ Arbeiten gewohnt sind: Sie sehen den Fotografen Linnerz, und Sie sehen mit den Wörtern den Grafikdesigner Linnerz. Aber für diese Ausstellung hat der Künstler Sebastian Linnerz seinen Wirkungskreis erweitert und neue Elemente hinzugefügt.

In der Mitte sehen Sie die Lichtkisten. Die Kisten hat ein Schreiner nach dem Entwurf von Herrn Linnerz aus dem groben Fichtenholz von Europaletten gefertigt. Zu jeder Kiste führt ein Stromkabel. Nicht versteckt, sondern offen und gut sichtbar, locker nebeneinander auf dem Kirchenboden liegend. Jede der sieben Kisten strahlt und beleuchtet zugleich von innen ein Wort: »Seele, aber, meine, ein Wort, sprich nur, gesund, so wird«. Die Wörter sind Digitalprints auf transluzenter Folie, die wiederum zwischen zwei Plexiglasscheiben liegen.

Sie werden gleich versucht haben, Ordnung in die Wörter zu bringen, und sicherlich ist es Ihnen gelungen. Diejenigen, die mit dem katholischen Gottesdienst vertraut sind, werden relativ schnell den Satz entdeckt haben: »Aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund«, ein Satz der in jeder heiligen Messe gebetet wird. Diejenigen, die sich darüber hinaus noch in der Bibel auskennen, werden wissen, dass dies ein Zitat aus den Evangelien ist. Sie werden jetzt vielleicht einwenden: Also doch ein religiöses Kunstwerk, steht im Mittelpunkt doch ein frommer Satz. Ohne jetzt die Intention des Künstlers an den Rand drängen zu wollen, ist dies aber nicht die einzige Lesart. Die Wörter können Sie auch anders lesen: Es könnte zum Beispiel auch heißen: »Aber sprich nur, meine Seele, so wird ein Wort (gesund)«. Dass die meisten von Ihnen diesen Satz anders gelesen haben, ist Resultat Ihrer Konstruktion, wahrscheinlich auch Ihrer Sozialisation. Aber ich verrate Ihnen nicht zu viel, wenn ich sage, dass Sebastian Linnerz den biblischen Satz vor Augen hatte, als er die Kisten hier ungeordnet hingelegt hat. Er hat mich gebeten, etwas zu diesem biblischen Kontext (Matthäus 8,5-13) zu sagen:

Der Satz wird gesprochen von einem römischen Hauptmann, also einem Heiden. Dieser bittet Jesus, den Juden, in sein Haus zu kommen, um seinen schwerkranken Diener, seine Seele zu heilen. Was diese Begegnung auszeichnet, ist eine doppelte Unmöglichkeit, eine doppelte Grenzüberschreitung. Die erste Unmöglichkeit: Der Heide erhofft sich durch Jesus, den Juden, Heilung. Die zweite: Er erwartet, dass Jesus in sein Haus komme, was einem Juden nicht erlaubt war. Es wird also eine Begegnung geschildert, die eigentlich nicht stattfinden kann. Aber gerade bei dieser Begegnung ereignet sich Heilung.

Gerne übertrage ich diese Szene auf unseren Kontext, auf die Begegnung von Kunst und Kirche: Gerade in unerwarteten Begegnungen von Kultur und Kirche, die manchmal auch Konfrontation sind, ereignen sich heilsame Momente. Gerade weil Künstler nicht wiederholen, was sowieso schon in der Kirche gesagt und gedacht wird, kann in Kirche Neues entdeckt werden. Wir kennen ein schönes Wort für diesen geschenkten Blick von außen: Fremdprophetie. »Ohne das Potential der musisch-ästhetischen Fremdprophetie sind unsere drei kirchlichen Grundvollzüge Martyria, Diakonia und Liturgia nicht mehr in vollem und ursprünglichen Sinne zukunftsfähig.« (5)

Daher erlaube ich mir, den Satz, den Herr Linnerz neu in dieser Kirche zum Ausdruck gebracht hat, zu erweitern. Manchmal ist es ein Wort, ist es ein Bild, ist es ein Ton, der Seelen gesunden lässt.

Ein Ton ist auch der Ausgangspunkt der Klanginstallation, die Sie eben gehört haben. Sebastian Linnerz konnte die beiden Musiker und Künstler Edi Winarni und Marius Bubat dazu gewinnen, eine Klanginstallation für diesen Kirchenraum zu komponieren, die der Ausstellung eine weitere Dimension schenkt. Ausgangspunkt dieser Komposition ist ein Ton – das gis der Kirchenglocke – der, die Architektur aufgreifend, variiert wird. Sebastian Linnerz hat schöne Worte für diese Klanginstallation gefunden: »Unaufdringlich, aber eindringlich begleiten die sparsam gesetzten Töne meine gedankenlosen Meditationen«.

An der Wand sehen Sie das zweite Exponat dieser Ausstellung. Auch dieses Werk soll in seiner Bedeutung nicht erklärt werden. Dieses Werk hat aber eine interessante Genese. Als ich mit Sebastian Linnerz letzte Woche hier in der Kirche saß, hat er mir die Entstehungsgeschichte dieser Arbeit erzählt. Ich fand diese kleine Erzählung so schön, aber auch so persönlich, dass es schade wäre, wenn ich sie Ihnen aus zweiter Hand weitergeben würde. Daher habe ich Herrn Linnerz gebeten, das selbst zu tun.

Sebastian Linnerz:

Als ich letztes Jahr für meine Postkartenserie »Domdetails« am Kölner Dom fotografierte, ist mir ein besonders schönes Motiv zunächst entgangen. Erst im Mai dieses Jahres – bei einem Konzert auf dem Roncalliplatz – entdeckte ich an der Spitze des Südturms eine Leiter, die direkt in den Himmel zu führen schien. Kurz darauf kam ich bei Tageslicht mit meiner Kamera zurück.

Das entstandene Motiv gefiel mir dann so gut, dass ich es unbedingt als Ergänzung meiner »Lichtkisten« ausstellen wollte. Aber wie? Wie würde ich diese »Himmelsleiter« in die Kirche bringen? Als Großfoto mit Schnüren an die Decke gehängt? Unmöglich. An den Kabeln der vorhandenen Beleuchtung befestigt? Auch unmöglich. Mit einer Holzkonstruktion hinter die »Lichtkisten« gestellt? Das würde den Kirchenraum optisch blockieren. Oder sollte ich das Bild mit Dübeln und Haken an einer Seitenwand befestigen? Sicher würde das nicht erlaubt. Und nein, ich wollte auch der denkmalgeschützten Wand keine »Wunden« zufügen.

Im Familienurlaub am Meer kam mir endlich eine überzeugende Idee: Ich würde das Foto als Stoffdruck an einer Stange mit einer langen Leiter einfach an die Wand »klemmen«. Ohne zusätzliche Befestigung. Aber mit welcher Leiter? Hatten nicht meine Großeltern eine sehr, sehr alte Obstleiter aus Holz besessen? Gab es die noch? Ein kurzer Anruf, und meine Tante bestätigte: Ja, die Leiter gibt es noch.

Jetzt steht sie hier in St. Gertrud. Als reale Ergänzung des fotografischen Domleiterbildes. Und im Schein einer einfachen Glühbirne hat das nun etwas von einer mysteriösen Baustelle. Himmelwärts.

Mit diesem Werk greift Sebastian Linnerz auf eine biblische Erzählung zurück, auf den Traum Jakobs.

Ich lese Ihnen diese kleine Erzählung in der Übersetzung von Martin Buber vor:

Jaakob zog aus von Bescheba und ging auf Charan zu
Und geriet an jenen Ort.
Er musste dort nächtigen, denn die Sonne war eingegangen.
Er nahm einen von den Steinen des Orts
Und richtete ihn für sein Haupt
Und legte sich hin am selben Ort.
Und ihm träumte:
Da, eine Leiter, gestellt auf die Erde,
ihr Haupt den Himmel rührend,
und da, Boten Gottes steigen auf, schreiten nieder an ihr.
Und da
Stand Er über ihm
Und sprach:
Ich bins
Der Gott deines Vaters Abrahams und der Gott Jizchaks. (6)

Sie sehen, ganz ohne Engel kommt Sebastian Linnerz dann doch nicht aus. Zumindest die Leiter für die Boten Gottes hat er mitgebracht, eine Leiter, »gestellt auf die Erde, ihr Haupt den Himmel rührend«, in diese Kirche gestellt. Wir danken ihm dafür ganz herzlich.

Zitate:

(1) Papst Paul VI, Evangelii Nuntiandi, Bonn 1975, 13.
(2) Bischof Friedhelm Hofmann, Recht auf Kultur – Pflicht zur Kultur, in:
Erich Garhammer (Hg.), Bilderstreit, Würzburg 2007, 15.
(3) Friedhelm Mennekes, Zwischen Freiheit und Bindung, Köln 2008, 114.
(4) ebd., 116.
(5) Bischof Friedhelm Hofmann, a.a.O., 12.
(6) Martin Buber, Die fünf Bücher der Weisung, Stuttgart 1992, 79f.

(September 2011)