Bilderfinden

Eröffnungsrede zur Ausstellung im Deutschlandradio Funkhaus
von Klaus Pilger

Gestatten Sie mir, dass ich diese Ausstellungseinführung mit einer Rückblende beginne, mit einer Zeitreise. Also schauen wir ein Vierteljahrhundert zurück, ins Jahr 1982.

1982 heißt der Bundeskanzler Helmut Schmidt, aber nur bis der am 1. Oktober durch ein »konstruktives Misstrauensvotum« stürzt und Helmut Kohl sein Nachfolger wird. Der Bundespräsident Karl Carstens wandert durch Deutschland, die Briten besiegen Argentinien im Falkland-Krieg, Italien besiegt Deutschland im Fußball-WM-finale, die Transitautobahn Berlin-Hamburg wird eröffnet, die Zahl der Arbeitslosen steigt in der Bundesrepublik erstmals über zwei Millionen, Romy Schneider stirbt, Carl Orff stirbt, auch Rainer Werner Fassbinder und Leonid Breschnew sterben. Geboren wurde damals immerhin Kevin Kurányi. Heiner Müllers Stück »Quartett« wird uraufgeführt, Nicole gewinnt mit »Ein bisschen Frieden« den Schlager-Grand-Prix, im Kino läuft »E.T. – Der Außerirdische« von Steven Spielberg.

1982!! Im Sommer 1982 treten zwei ungleiche junge Männer, Anfang 20, eine Deutschlandreise an. Sie kennen sich von der gemeinsamen politischen Arbeit bei der Gefangenenhilfsorganisation amnesty international. Sie sind unterwegs in einem alten weißen Käfer und ja, tatsächlich, der springt dauernd nicht an und einer muss anschieben bis die Kiste läuft. Eine romantische Reise?

Nun, der eine junge Mann ist voller Energie und Tatendrang. Er studiert Grafikdesign, ist neugierig auf Bilder und Plakate und auf die Kunst jener Zeit, auf das Leben sowieso. Auf dieser Reise fotografiert er sehr viel und beweist einen Blick für ungewöhnliche optische Konstellationen und besonders für Buchstaben und Zeichen im Stadtbild. Nur: Letzteres ist ihm noch gar nicht so klar.

Der andere junge Reisende ist skeptischer, zurückhaltender, vorsichtiger. Er ist nicht der Mann der Bilder, sondern der Mann der Wörter und der Texte. Er studiert Literatur- und Theaterwissenschaft, er liest, beobachtet, schreibt viel, auch für Zeitungen. Und er weiß noch gar nicht, dass er ein Jahr später sein erstes Radiopraktikum beim WDR machen wird.

Die beiden ungleichen jungen Männer mögen sich gut leiden und der – kann man das so sagen? – Bildermann führt den Wörter- und Schreibermann zunächst nach Kassel: zur documenta 7! Und der Wörtermann staunt darüber, was ihm der Bildermann da alles zeigt: Die 7000 Basaltstelen des Josef Beuys, für die jeweils ein Baum gepflanzt werden sollte – und wurde! – , die riesige Spitzhacke von Claes Oldenburg am Fulda-Ufer, Piss-Painting von Andy Warhol, die »Neuen Wilden« und – die Konzeptkünstler! Erschlagend viel frische Kunst für junge Köpfe!

Die Deutschlandreise geht weiter über Göttingen und Bamberg bis vor das wagnerianische Festspielhaus in Bayreuth, dann über Nürnberg und München bis nach Tübingen auf den Spuren des umnachteten Hölderlins bis ins nahe Maulbronn – wo die beiden auf die Graffiti, die Hermann Hesse dort in die Bänke der evangelischen Klosterschule geschnitzt hat, stoßen.

Der Bildermann und der Wörtermann – eine ungleiche Paarung voller Gegensätze, voller Spannungen, voller Überraschungen, voller gegenseitiger Anregungen, voller Staunen. Zwei Paralleluniversen, die sich berühren?

Rückblende Ende.

»Bilderfinden« heißt das, was Sie hier heute Abend sehen.

Einerseits sehen Sie Bilder, die Sie als Deutschlandfunk- oder auch Deutschlandradio-Enthusiasten, die Sie ja vermutlich alle sind, längst kennen – nämlich von der Hörspiel-Feature-Broschüre, die Sebastian Linnerz seit zwölf Jahren vierteljährlich gestaltet – als Grafikdesigner UND als Fotograf.

Von den 48 bisherigen Motiven sehen Sie hier heute Abend 16. Es handelt sich um digitale Farbfotos, die für die Covers in schwarz-weiße Vorlagen umgewandelt wurden, für die Broschüren wurden sie dann monochrom eingefärbt – blau, orange, grün und rot – jedes Quartal hat eine andere Farbe. Hier sehen Sie die Originalhefte – dort die jeweils 70 mal 70 Zentimeter großen Schwarz-Weiß-Vergrößerungen.

An der hinteren Wand dann die 20 farbigen Fotografien »Schrift Zeichen Spuren«, entstanden auf vielen Reisen. Die meisten Fotografien dieser 20er-Serie – bis auf zwei – stammen von Kleinbildnegativen, denn der kritische Fotograf Sebastian Linnerz ist erst seit 2005 von der Qualität digitaler Kameras wirklich überzeugt – dank steigender Pixelzahlen. Die Fotos – so hat mir der Urheber genau erklärt – wurden hochauflösend gescannt, digital optimiert und sind nun im Format 60 mal 40 – nur eines ist größer – auf »Dibond« gezogen, einem Material, das aus einer Schicht Aluminium und zwei Schichten Kunststoff besteht. So viel zur Technik, auch der muss Genüge getan sein.

Auch wenn mich die Inhalte persönlich mehr faszinieren.

Sebastian Linnerz’ »Brotberuf« ist ja das Grafikdesign. In einem Gastbeitrag fürs Deutschlandradio-Programmheft klagte er 1998 sein Leid darüber, dass fast kein Mensch die Arbeit eines Grafikdesigners versteht, geschweige denn würdigt. Maler, Illustratoren, Architekten, Bildhauer, auch Fotografen werden durch ihre klar fassbaren Werke leichter wahrgenommen. Die Arbeit von Grafikdesignern, die in Zeitungen und Zeitschriften, auf Plakaten, CD-Covers und im Internet gestalten, Fotos und Schriften ästhetisch in Szene setzen, gar Schriften entwerfen – diese Arbeit wird nur nebenher wahrgenommen. Die wenigsten unter uns könnten jetzt fünf weltweit bedeutende Grafikdesigner aufzählen! »Gutes Design«, so schrieb Sebastian Linnerz, »lenkt die Aufmerksamkeit auf eine Botschaft und macht Stimmung für den Inhalt. Gutes Design kann einen Inhalt aufwerten. Schlechtes Design ruiniert ihn.«

Und weiter: »Es ist nicht gleichgültig, wie man ein gesprochenes Wort betont. Es ist nicht gleichgültig, wie man ein geschriebenes Wort typografiert: Gestaltung ist Teil der Bedeutung.« Zum Schluss seines sehr klugen und amüsanten Artikels beschreibt Sebastian Linnerz wie er den Menschen, die Grafikdesign nicht kapieren, dann doch noch einige seiner Fotos zeigt. Da muss er nicht viel erklären und er beschließt, wenn er noch einmal auf einer Party nach seinem Beruf gefragt werden sollte, einfach zu sagen: Ich bin Fotograf.

Und jetzt zeigt er hier Fotografien. Denn er ist selbstverständlich auch ein Fotograf.

Was ist er noch, der Sebastian Linnerz? Er ist ein Perfektionist. Ein ganz Penibler. Ein Klarer, ein Exakter, ein Konsequenter, ein Detailversessener, ein Ästhet sowieso. Alles Tugenden, die er für seinen »Brotberuf« sehr gut brauchen kann.

Aber auch für seine Fotografie. Aber die hat bei aller Exaktheit in der Ausführung nichts mit Planung, mit Suche zu tun. Sebastian Linnerz findet Bilder ohne sie zu suchen. Und was gibt es in dieser komplizierten Welt Gewaltigeres als zu finden ohne zu suchen! Wer von uns erlaubt sich das noch! Obwohl es einige von uns könnten …

Sebastian Linnerz findet die Schlittschuhspuren auf dem Eis des Weihers, er entdeckt den Kachelboden in einem Treppenhaus neu und erkennt den Charme einer verblühenden Rose als Schatten hinter einem Vorhang oder die zufällige Komposition einer gefüllten Obstschale. All diese Motive sind Details, Ausschnitte vom größeren Ganzen, sie sind nur scheinbar aus dem Zusammenhang gerissen, sie bleiben Teil einer ungeschriebenen Geschichte. Die man aber sofort erzählen könnte! Es sind Motive, die ihre Offenheit behalten. Im übrigen – und auch das passt dazu – sind diese Fotos nicht FÜR die Hörspiel-Feature-Broschüre fotografiert worden, sondern erst später aus dem Archiv des Fotografen dafür ausgewählt – gefunden – worden.

Dieser klar konturierten schwarz-weißen Welt gegenüber steht die farbige, aber kryptischer wirkende Welt der »Schrift Zeichen Spuren«. Ein Grafikdesigner hat fotografiert und wen mag es da wundern, dass diesen Mann die geschriebenen, gemalten, geprägten, gedruckten, gekritzelten, abgerissenen oder gestanzten Chiffren und Zeichen faszinieren – alles Signale menschlicher Kommunikation und Zivilisation.

Doch als Fotograf, als Entdecker, muss er jetzt nicht wie der Grafikdesigner Schriften in Szene setzen oder gar gestalten. Nein, er muss nur einen Blick für die Zeichensprache des Vorhandenen haben, spielerisch beobachten, sehen und – finden! Und den richtigen Ausschnitt wählen, jenes Detail finden, das entscheidend ist für die Wahrnehmung des Objekts. Das heißt: Sie sehen hier keine Ausschnitte, die Bilder entsprechen dem kompletten Negativ beziehungsweise bei den digitalen Motiven exakt dem gewählten Ausschnitt.

Das können nicht entzifferbare arabische Graffiti-Zeichen auf einer azurblauen Hauswand in Tanger in Marokko sein oder die Eisenbahnwaggon-Beschriftung in Roma-Termini, die Schrift auf einem sardischen Hafenpoller, die Stanz-Nummerierung in Vancouver, die politische Graffiti im portugiesischen Coimbra oder eine rostige Heftzwecke auf einer grauen Tafel mit einem Papierrest in einer verlassenen Fabrikhalle in Köln-Mülheim.

Alle Bilder in dieser Serie sind »Ready Mades« oder besser »Ready Founds«, Bilder ohne jede Verfremdung, ohne Manipulation durch den Fotografen: Arrangements gibt es keine. Manche der »Schrift Zeichen Spuren« wirken wie ein Rätsel, sind als Motiv und in ihrer Wirkung nicht eindeutig. Der Fotograf kennt die Lösung des Rätsels auch nicht, aber er ist in der Lage dazu, das Rätsel zu stellen! Für ihn ist es sehr wichtig, dass der ursprüngliche Kommunikationszweck des Motivs nicht mehr im Vordergrund steht. Und, so sagt Sebastian Linnerz, wenn zufällig Botschaften erkennbar bleiben, so müssen sie mir sympathisch sein!

Erst 1997, also mehr als 15 Jahre nach dem Beginn seiner fotografischen Arbeit, ist dem Fotografen übrigens aufgefallen, dass ein Großteil seiner gesammelten Foto-Bilder Schriften und Zeichen zeigten. Dafür gab es keinen Plan.

Zwischenzeitlich sprach ich vom »Brotberuf« des Sebastian Linnerz. Ein schöner »Brotberuf« übrigens! Wie viele Plakate hat Sebastian Linnerz in den vergangenen 20 Jahren seiner freiberuflichen Tätigkeit entworfen, wie viele Broschüren, Programmhefte, Buchumschläge und CD-Covers gestaltet! Wie oft hat er aus dem – für uns meist – Verborgenen dafür gesorgt, dass wir ästhetisch und kunstvoll gestaltete »Kulturprodukte« in Händen hielten oder aufgehängt betrachtet haben!

Sie sehen hier seine Bilder, seine Fotos, doch ihn, den einen der beiden Deutschlandreisenden von 1982, nur einfach den »Bildermann« zu nennen, das wäre viel zu einfach. Und absolut unvollständig! Denn nicht nur wenn Sie seine Grafikdesign-Arbeiten sehen, sondern auch wenn Sie seine Fotos betrachten, wissen Sie, dass Sie es auch mit einem »Schriften-Mann« zu tun haben – einem der die Zeichen liebt und die Schriften als Bilder erkennt – wie einst die Ägypter, die Eskimos und die Indianer.

Sebastian Linnerz’ Verbindung zum Radio bestand schon seit frühester Jugend, denn sein Vater war ein Radiomann, ein Mann des Wortes, ein renommierter Kulturjournalist wie er im Buche steht! So war Sebastian Linnerz also auch das gesprochene Wort nie fremd, wobei seine Welt vorrangig die des optisch gestalteten Wortes ist.

Ein Grafikdesigner, ein Wortgestalter, ein Bilderfinder, ein Zeichenentdecker, ein Fotograf!

Bei einer früheren Foto-Ausstellung des Sebastian Linnerz kam einmal wieder die Frage auf: Was ist das denn nun eigentlich, was man hier sieht: Ist das auch Grafikdesign, ist das Fotografie, ist das Kunst? Ich weiß, dass diese Fragestellung Sebastian Linnerz ziemlich nervt und er diese Ausstellung hier gerne »Sebastian Linnerz – keine Kunst« genannt hätte, aber diese Titelidee hatte schon ein anderer Leidensgenosse vorher gehabt.

Die richtige Antwort auf die Frage nach Kunst oder Nicht-Kunst hat Sebastian Linnerz mit rheinischer Nonchalance übrigens ganz treffend selbst gegeben. Ich zitiere den Künstler:

»Ist mir egal!«

Nun, der »Bildermann« – ich will ihn hier nur noch einmal so einseitig bezeichnen – begab sich nach der Deutschland-Reise von 1982 also auf seinen erfolgreichen Weg als Grafikdesigner und Künstler – Kommunikation wurde sein Beruf. Der andere Reisegefährte – Sie erinnern sich an das Paralleluniversum des Wörter- und Schreibermanns – nun dieser Wörtermann hat auch Kommunikation zu seinem Beruf gemacht – auf eine andere Art und Weise. Er war zusätzlich zum »Sprechermann« geworden, weil er – neben dem geschriebenen Wort – auch das Radio richtig lieb gewonnen hatte.

Und ich, der »Wörtermann« und der »Sprechermann«, ich freue mich sehr, heute hier zu stehen und dem zu danken, der mich viel gelehrt hat – über Bilder, über Fotografie, über Kunst, über Buchstaben und Zeichen – und noch vieles mehr! Vielen Dank dafür, Sebastian, und vielen Dank Ihnen für Ihre Geduld und Aufmerksamkeit!

(Mai 2007)